In einem offenbar für viele User interessanten, wegen zunehmender
ad hominem Diskussion jedoch leider geschlossenen Thread ging es unter anderem darum, daß manche Begriffe, Worte, Symbole, die wir Menschen in unserer Sprache und unserem Denken verwenden, in der Realität – was immer das auch sein mag – auf Phänomene oder "Dinge" weisen, denen eine
objektive Existenz zukommt. Um dieses
objektive Existieren zu belegen, wurde u.a. ein Artikel in Wikipedia angeführt: Die Existenz dieses Artikels beweise eindeutig, daß dieses Ding nicht nur subjektiv – meint: als angenommen, rein symbolisch in Gedanken und Schriften – existiert, sondern völlig unabhängig vom menschlichen Geist. Ich kann mir beim besten Willen einen solchen Beweis nicht vorstellen, weiß aber aus Erfahrung, daß bei gewöhnlichen Menschen häufig vieles als Beweis gilt, was bei näherer Betrachtung oder eingehender Untersuchung eigentlich unbewiesen oder gar unbeweisbar ist.
Welche Ansichten ich selbst in dieser Angelegenheit vertrete, habe ich ja bereits angedeutet: Unser Wahrnehmungssystem umfaßt nicht nur unsere Sensorik (Sehen, Riechen, Hören, Tastsinn, Geschmack), sondern auch und, wie ich meine, in erster Linie unser Interpretationssystem, das sich in seinen Grundzügen bereits lange vor der Entstehung des Menschen entwickelt haben muß. Allein die Nervenreize, die durch unsere äußeren Sensoren ausgelöst werden, würden uns noch keine Weltsicht in der Komplexität, über die wir Menschen heute verfügen, vermitteln können. Erst durch die Interpretation der ankommenden Nervenreize, die unser Gehirn vornimmt, entstehen in uns die Bilder, die wir gewöhnlich als die uns umgebende Welt wahrnehmen. Diese Interpretationfähigkeit scheint uns zwar als grundlegende Fähigkeit gewissermaßen angeboren zu sein, ist aber auf den Input der ersten Lebensjahre angewiesen. In dieser Zeit lernen wir die eigentliche Wahrnehmung, die Interpretation in Übereinkunft mit den gesellschaftlichen Anforderungen, und dieses Lernen hört im Grunde niemals auf.
Wie dieser
Spiegel-Artikel vom 1. November 2003 beschreibt, muß ein erwachsener Mann, der als Dreijähriger sein Augenlicht verlor, das Sehen wieder von Grund auf erlernen, nachdem er durch eine Operation das rechte Augenlicht wieder zurück erhielt. Es genügt jedoch nicht, seinem Hirn die einwandfreien Nervenreize zu übermitteln, denn er hat nie wirklich gelernt, diese zu interpretieren. Der Bereich des menschlichen Gehirns, der für das Sehen und für die Interpretation visueller Eindrücke zuständig ist, erscheint bei ihm kleiner als gewöhnlich, er ist unterentwickelt: "Mays Auge mag tadellose Bilder liefern, aber sein Hirn hat offenbar keine rechte Verwendung mehr dafür. Das Gehirn eines Neugeborenen ist ähnlich überfordert, aber es lernt allmählich, aus dem Wirrwarr der Seheindrücke eine scharfe Vorstellung von der Außenwelt zu schaffen. Abermillionen Hirnzellen müssen sich dafür zur Zusammenarbeit bequemen. Ist ein Erwachsener über die Zeit hinaus, in der solche Leistungen möglich sind?" ... "Allerdings erkennen Säuglinge schon mit zwei Tagen ein Augenpaar, das sich ihnen zuwendet. Können Blinde eine so tief verwurzelte Fähigkeit restlos verlieren? Für die Psychologin Fine legt der Fall May den Schluss nahe, dass angeboren nur das Reagieren auf beliebige Gesichter ist. Individuelle Züge werden wohl erst später erlernt - zu spät für einen Jungen, der mit drei Jahren erblindete." (ebd.)
Ich finde den Artikel sehr spannend und informativ und kann ihn wirklich empfehlen.
Michael May's innere Wirklichkeit unterscheidet sich daher zwangsläufig von der eines sehenden Menschen, denn in seiner Wirklichkeit herrschen nicht wie bei Sehenden visuelle Eindrücke vor. Niemand, der sehen kann, vermag sich wirklich vorzustellen, wie die Welt ohne visuelle Eindrücke wäre. Wenn man "Welt" schreibt oder sagt, meint man immer die angeommene äußere Welt, die man eigentlich gar nicht kennt, weder im Ganzen noch direkt, sondern immer nur mittelbar wahrnimmt, was uns aber nur selten bewußt wird. Wir tun gewöhnlich so – und das hat einen ganz praktischen Grund –, als ob die Welt fraglos und zweifelsfrei so sei, wie wir sie uns vorstellen. Ja, wir tun so, als ob die Welt, auf die wir uns beziehen, gar nicht die in unserer Vorstellung wäre, sondern als habe jeder, als müsse jeder zwangsläufig dieselbe Vorstellung von dem haben, was ihn umgibt. Wir denken nicht einmal an Vorstellung, sondern vermeinen gewöhnlich, alles direkt wahrzunehmen. Unsere Wahrnehmung erzeugt aber erst die Wirklichkeit, die wir als unsere Welt bezeichnen, und zwar in unserem Kopf. Dieselbe Welt, die wir im Außen objektiv vermeinen, erzeugt in jedem Menschen jedoch unterschiedliche Vorstellungen, auch wenn die Unterschiede zwischen Menschen, die regen und regelmäßigen Umgang miteinander pflegen, kaum feststellbar sein mögen. Das liegt aber nicht in erster Ursache daran, daß Menschen, die ständig irgendwie miteinander zu tun haben, alle genau dieselben Interpretationen vornehmen, sondern daß sie – meist stillschweigend – übereinkommen, die Dinge so zu sehen, wie es die anderen offenbar tun. Man will ja dazugehören, teilhaben, mitspielen, und das wird gewöhnlich nur gestattet, wenn man ähnliche Ansichten und Sichtweisen zeigt – ob man sie nun wirklich pflegt oder nur vorgibt. Das geht teilweise so weit, daß man heute mehr und mehr dazu neigt, all jene Menschen, deren Wahrnehmung und Vorstellung von der eigenen abweicht, als Spinner und Gestörte zu etikettieren. An diesem Punkt zeigt der "Wahnsinn" dann echt Methode ...
Wenn Interesse an diesem Thema besteht, würde ich gerne weitere Ansichten von anderen Usern dazu lesen, vorwiegend von Forenteilnehmern, die sich bereits mit dieser Thematik mehr oder weniger auseinandergesetzt haben, denn wem diese Thematik weitgehend fremd ist, der sträubt sich gewöhnlich reflexartig z.B. gegen die Vorstellung, daß Objektivität nichts weiter als das Resultat subjektiver Beurteilung oder uniformer Kategorisierung sein soll. Mit dem letzte Halbsatz drücke ich selbstverständlich nur einen Wunsch aus; weder bin ich geneigt noch überhaupt in der Lage, Beiträge zu zensieren oder gar zu löschen, die von Usern verfaßt wurden, die sich noch nie zuvor damit befaßt hatten.