die Diskussion, ob die Mathematik eine Natur-, Geistes-, Hilfs- oder XYZ-Wissenschaft ist, ist überflüssig.
Sie ist die(!) Wissenschaft schlechthin. Das ergibt sich schon aus ihrem griechischen Namen:
μαθηματική τέχνη mathēmatikē téchnē bedeutet "die Kunst des Lernens, "das was man Lernen kann", ...
Das will ich doch meinen! Keine der sog. "exakten Wissenschaften" kommt ohne die Mathematik aus. Dagegen kommt die Mathematik sehr gut ohne die erstgenannten zurecht.
Die genannte Sendung war mir einfach zu "mystisch", d.h. es wurde versucht, der Mathematik irgendetwas Geheimnisvolles aufzudrücken. Irgendwie kam ich mir wie bei "Galileo" (Pro7) vor, nur das bei arte keine groben fachlichen Schnitzer auftraten.
Das hat mich neben der Überbetonung der mathematischen Fähigkeiten ebenfalls gestört. Mathematik ist doch wie der Verstand lediglich ein Werkzeug, dessen man sich bedienen kann, um bestimmte Ziele zu erreichen. Mathematik kann letztendlich auch nichts anderes als ihre eigenen Regeln zu beweisen, so wie sich das mit jeder Sprache verhält. Natürlich könnte man jetzt entgegnen, die Mathematik beweise doch dieses und jenes Phänomen in der Natur. Das ist ja auch nicht falsch, falsch ist nur, daß man mit Hilfe der Mathematik nicht auch was "beweisen" kann, das sich am Ende als unzutreffend herausstellt. Wenn dann am Ende irgend eine der verfügbaren mathematischen Theorien zutrifft, könnte man durchaus einwenden: Einer hat eben die richtigen (Lotto-)Zahlen aufgeschrieben. Oder anders ausgedrückt: Nicht alles, was durch mathematische Berechnungen postuliert wird, trifft auch wirklich zu. Vieles davon kann man ja erst gar nicht überprüfen, und die angedeuteten "göttlichen" Zusammenhänge und Geheimnisse schon gar nicht.
Andererseits meinte Wittgenstein, "daß jeder einzelne, um zur Wissenschaft zu gelangen, zunächst sinnleerer Wortfolgen zur 'Erläuterung' bedürfe (WITTGENSTEIN,
Tractatus 6.54): 'Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)'" Er meinte auch: "Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern
daß sie ist." (
Tractatus 6.44)
Schon der Einstieg mit der Fibonacci-Folge und der Blattanordnung bei Pflanzen versuchte etwas "Unbekanntes" hineinzudeuten. Die Ursache für die Blattstellung (Phyllotaxis) ist seit dem 19.Jahrhundert geklärt (Schimper-Braunsche-Hauptreihe). Die Spiralen bei den Sonnenblumen und anderen Pflanzen nähern die logarithmische Spirale an. Das ist auch nichts Mystisches. Hier ergibt es sich automatisch aus dem Wachstumsprozess.
Kam mir gleich spanisch vor, mir fiel dieser Freimauer-Film ein, wie hieß der doch gleich, ach ja, Illuminati ... Wie ging nochmal dieser Spruch? "Als Wunder bezeichnen wir immer das, was wir nicht verstehen." oder so ähnlich ... Früher hat Feuer aus denselben physikalischen oder chemischen Gründen gebrannt wie heute, aber man hat es sich anders erklärt, göttlich, mystisch, weiß der Geier. Und heute glauben wir wie die Leute damals, daß alle unsere "Erklärungen" – die in Wirklichkeit gar nichts erklären, weil sie alle auf unüberprüfbaren letztendlichen Ursachen aufbauen –, unfehlbar zutreffend seien. Dabei hat die Quantenmechanik und die Kernforschung längst gängige Erklärungsmodelle widerlegt: Es gibt keine Materie, das ist ein Konstrukt des menschlichen Gehirns, das von der menschlichen Wahrnehmung geprägt ist, und die kann eben nicht alles erfassen.
Und ausgerechnet Mario Livio als "Zeuge" für das "Unbekannte" anzuführen, war schon komisch. Gerade da Livio geniale Bücher geschrieben hat, ist der Hinweis auf den Titel "Ist Gott ein Mathematiker?" eines seiner Bücher ein Witz. Es wird suggeriert (aber nicht gesagt), er würde eine "göttliche Macht" oder "Rätselhaftes" hinter der Mathematik sehen. Aber gerade das macht er nicht. Dazu muss man aber sein Buch gelesen haben, sonst weiß man es nicht.
Da hat wohl der Filmemacher schlecht recherchiert. Ist ja heutzutage auch nicht mehr üblich, das Recherchieren, schön muß es anzusehen sein, blitzen muß es, eine sonore Stimme, die wirkt überzeugend, und faszinieren muß es. Auf die paar Skeptiker und Besserwisser kann man getrost verzichten, die hört und sieht eh keiner, denen gibt man keinen Raum für ihre Kritik, damit gibt's die gar nicht. So werden heute "Dokumentationen" gemacht, die aus meiner Sicht Pseudo-Dokus sind. Echt gute Dokus sind rar geworden, egal zu welchem Thema. In den Massenmedien findest du sie kaum noch. Wozu auch, das Ziel ist die breitflächige Verdummung, und die funktioniert. Unübersehbar.
Alles in allem hochinteressante, weil entlarvende Bemerkungen von dir, lieber Steffen, was natürlich keine Überraschung ist, wenn man deine zahlreichen Mathematik-Beiträge in der EE, aus der ich mich heute endgültig verabschiedet habe, kennt.
"Die subatomaren Bausteine der Welt können nicht mehr als rein körperliche Bestandteile aufgefasst werden. Es gibt keine Materie mehr, bloß noch eine mathematische Formel für Energie. Auch Quanten sind als Abstraktionen theoretische Vereinheitlichungen, die nur den Sinn haben, den sie als Maß für das Zählen haben. In der Natur selbst aber gibt es weder ein Zählen noch ein Messen. Gravitation und Elektrizität sind vollkommene Rätsel, wenn sie etwas anderes sein wollen, als Begriffe von Gesetzmäßigkeiten sensibler Vorgänge. Alle physikalischen Begriffe enthalten nur Abstraktionen und keine Realitäten."
Laurend Verycken: Formen der Wirklichkeit – Zeit und Raum