Hallo!
Ich finde, das ist einer der interessantesten Threads der letzten Zeit. Vielleicht kann ich noch eine andere Sichtweise beisteuern.
Ich habe über Jahre eine Software aufgebaut und gepflegt als sie fertig war. Der Grundstein wurde zu Delphi-7-Zeiten gelegt. Der Anforderungskatalog war recht klar definiert. Hin und wieder kam mal ne Kleinigkeit dazu, manchmal musste was angepasst werden um das neueste Windows zu unterstützen, aber im großen und ganzen eine kleine heile Welt.
Dann kam plötzlich jemand in der Geschäftsleitung auf die Idee, wir expandieren jetzt auf den russischen Markt! Außerdem war das bisherige Warenwirtschaftssystem nicht mehr genehm, es musste unbedingt ein anderes her. Da wurde einerseits die Front beim Thema
Unicode geöffnet, andererseits auch noch bei den Schnittstellen zum Wawi.
Also stand ich vor der Entscheidung, das bestehende Programm anzupassen oder von Grund auf neu zu bauen. Nun war es schon 2013 und ich immer noch mit D7 unterwegs, da war ein Upgrade sehr verlockend - aus meiner egoistischen Sicht
Außerdem war ich an vielen Stellen mit dem vorhandenen Code unzufrieden. Wie es immer so ist bei gewachsenen Projekten: Man probiert mal was aus (auch aus Richtung Geschäftsleitung) und überlegt es sich wieder anders. Es bleiben halbfertige Altlasten zurück.
Es wurde also neu entwickelt. Zwei Jahre gingen dafür drauf. Pflege der alten Anwendung nahezu unmöglich, weil Mannstunden begrenzt. Zwischendurch kam Windows 7 mit etwas Verspätung in "mein" Ökosystem, die alte Anwendung lief darauf nicht mehr, also wurde der halbfertige Neubau ausgerollt. Mit dem entsprechenden Stress und Frust auf Seiten der Anwender. Derweil war es Ende 2015.
Der doofe Programmierer war natürlich schuld, weil der hatte ja in drei Jahren nix brauchbares zustande gebracht. Derweil hat sich das Projekt Russland-Expansion in blassen Dunst aufgelöst, weil der Wladimir gern Krimsekt trinkt und auf den Flaschen eine andere Flagge sehen wollte
Sich verändernde Rahmenbedingungen, die nicht vorhersehbar waren.
Irgendwann hab ich mir dann die Frage gestellt: Was wäre gewesen, ich hätte die ganze
Unicode-Baustelle sein lassen und mich ausschließlich auf die Wawi-Schnittstellen (die lustigerweise auch nur 128-Byte-
ANSI beherrschen) und die Windows-Kompatibilität beschränkt. Vereinfacht gesagt, wir hätten summa summarum keine halbe Million Euro in den Wind geschossen und dafür eine ziemlich angestaubte Softwarelösung. Stattdessen haben wir jetzt eine sündhaft teure Neuentwicklung mit sauberer Codebasis.
Was davon wäre nun besser rückblickend besser gewesen? Für mich Stand heute ganz klar die Variante mit D7 und Altcode. Ich hätte weniger Stress gehabt und in kürzerer Zeit flexibler auf die ein oder andere veränderte Rahmenbedingung reagieren können. Aber wie das für die Zukunft aussieht ist schwer zu beurteilen. Microsoft kann sich irgendwelche Dummheiten beim Windows ausdenken, wo sich unser neuer Code einmal bezahlt macht. Oder statt Kyrillisch wird auf einmal Chinesisch interessant. Niemand weiß es heute.
Das zwischenzeitlich neu ausgerollte Wawi entpuppte sich übrigens nach nur einem Jahr als grandioser Schuss in den Ofen. Unterm Strich 10x teurer als die vorherige Lösung, instabil und mit lausigem Anwendersupport. Letztlich auch nicht durchgehend
Unicode-fähig. Das auch noch zum Gesamtfazit hinzu gerechnet, schlägt das Pendel endgültig zur Pflege von Altanwendungen aus. Das mag aber durchaus fallspezifisch sein. Für eine umfassende frühzeitige Einschätzung fehlt einem als Entwickler nicht selten die nötige Weitsicht und fachübergreifendes Knowhow. Dafür gibt es,
IMHO sogar hier im Forum, Leute die das als Dienstleistung anbieten. Dies ist auf jeden Fall günstiger als wenn man wie in unserem Fall eine teure Fehlentscheidung trifft. Die ist zum Glück nicht allein auf meinem Mist gewachsen...
Wenn ich jetzt den Altcode von jemand anderem übernehmen müsste: Ich kann mir schon vorstellen, dass die Einarbeitung eine elende Sisyphus-Arbeit sein kann. Aber A) lernt man was dabei, B) kann man die durchgearbeiteten Teile gleich Stück für Stück dokumentieren und C) dabei gleich ein Ranking der zu überarbeitenden Teile aufstellen. Man schaue sich auf jeden Fall auch gründlich auf dem Markt für Zuliefer-Komponenten um. Wann immer es für bestimmte Probleme fertige Lösungen gibt, sollte man die einkaufen statt selbst das
Rad nocheinmal zu erfinden. Das ist stets langfristig teurer. Man muss aber genau schauen, Pflichtenheft aufstellen, damit man sich nicht eine Krücke einkauft.
Grüße
Cody
PS: Im vorliegenden Fall scheint den größten Fehler eure Geschäftsleitung schon gemacht zu haben: Den alten Entwickler gehen zu lassen. Ohne die genauen Umstände zu kennen: Vielleicht hätte er sich seinen Verbleib vergolden lassen. Aber unterm Strich hat man da auf die "In-Brain-Dokumentation" dessen verzichtet, das man in Form eines Firmenaufkaufs teuer ins Haus geholt hat und das jetzt durch euch mit entsprechenden Reibungsverlusten nachgeholt werden muss.